Neue Weltordnung

#1 von petias , 11.11.2020 20:21

NWO 1: Der Chronist

Wir schreiben das Jahr 24 NWO. Ich bin Ägidius Possensack, der Chronist. Wenn sie das lesen und verstehen können, gibt es eine gute Chance, dass sie kein Computer sind. Sind sie es doch, so hat diese Abschrift meiner Chronik den von mir beabsichtigten Zweck nicht erreicht. Schade!

Vor der NWO (New World Order) gab es die alte Welt.
Sie endete im Jahre 2044. Über die Zeit davor wird noch zu berichten sein.

Am 15. November 2044, ein Dienstag, wurden in allen Medien gleichzeitig die zehn Punkte veröffentlicht, die die Wende beschrieben:

Wir, eine Gruppe Wissender, Mächtiger und Entschlossener übernehmen die Verantwortung für die Geschicke unserer Erde und tun hiermit kund, damit jeder wisse:

Erstens
Die Menschheit ist zum Krebsgeschwür für die Natur unserer Erde geworden. Bewusstsein und Intelligenz der Mehrheit reicht nicht aus, um die Katastrophe zu verhindern.
Ordne Dich unseren Anweisungen widerstandslos unter, um weiteren Schaden von Dir und der Erde abzuwenden.

Zweitens
Es werden Maßnahmen ergriffen, die das krebsartige Ausbreiten der Menschheit unterbindet. Wildes Fortpflanzen wird nicht mehr möglich sein. Wer einen Kinderwunsch hat, stelle einen Antrag bei der zuständigen Behörde. Die Nachkommenschaft wird nach Zahl und Erbausstattung überwacht.

Drittens
Wir erklären Esperanto zur Weltsprache. Jegliche amtliche Kommunikation erfolgt künftig in Esperanto. Der Schulbetrieb wird zügig auf die Unterrichtssprache Esperanto umgestellt. Sprachkurse und im Anfang Übersetzungswerkzeuge werden umfassend zur Verfügung stehen.

Viertens
Es entsteht gerade in der Wüste Gobi eine neue Stadt namens Mundunia. Sie wird künftig Sitz der Weltregierung sein und den obersten Weltgerichtshof beherbergen. Die Weltregierung und der Oberste Gerichtshof wird jeweils von einer Einheit aus digitaler Superintelligenz und kybernetisch und biotechnisch optimierten Menschen bestehen. Nur so können die anstehenden Probleme im Interesse der Menschheit gelöst werden. Ein Mensch oder ein rein menschliches Team ist hierzu nicht in der Lage.

Fünftens
Wer geeignet und bereit ist zu lernen und sich kybernetisch und biotechnisch optimieren zu lassen, kann in die Gruppe der Menschen aufsteigen, die mit der Produktion der Güter und die Verwaltung der Erde beauftragt ist. Wir nenne sie die ARBEITER. Sie werden über Privilegien und einen gesteigerten Lebensstandard verfügen.

Sechstens
Die Anderen werden je nach Möglichkeiten der Weltlage mit Gütern, Wohnmöglichkeiten und Nahrungsmittel versorgt. Sie können lernen, kommunizieren, spielen, künstlerisch schaffen und sich nach Wunsch beschäftigen und entwickeln. Sie werden überwacht, um möglichen Schaden für die Welt abzuwenden und die eigene optimale Versorgung zu gewährleisten. Sie werden umfänglich medizinisch betreut. Wir nennen sie die BÜRGER.

Siebtens
Wer nicht wie die oben beschriebenen Stände leben möchte, oder wer sich nicht bewährt und deshalb von seinem Stand ausgeschlossen werden muss, kann in ein Naturreservat übersiedelt werden. Dort kann er sich zusammen mit den anderen Bewohnern selbst organisieren, ernähren und mit Gütern versorgen. Das Reservat wird soweit überwacht, um sicherzustellen, dass die Natur nicht zerstört wird und keine Gefahr für die Weltgesellschaft ausgeht. Darüber hinaus bilden die Bürger des Reservates ihre eigenen Regeln und versorgen sich selbst. Wir nennen sie die WILDEN.
Dieses Naturreservat dient gleichzeitig als Reserve-Gen-Pool für Natur und Menschen. Die Optimierungen am Genom von Menschen und Nutzpflanzen werden im Reservat nicht vorgenommen.

Achtens
Polizei und Ordnungskräfte werden aus den ARBEITERN gebildet unterstützt durch Roboter und sonstiges digitales und nicht digitales Equipment, je nach Bedarf. Sie sind unmittelbar den Verwaltungseinheiten unterstellt. Die Weltregierung verfügt über eigene Polizeikräfte und Milizen, um Gesetze und Gerichtsurteile durchzusetzen.

Neuntens
Die Provinzverwaltungen werden von der Zentralregierung mit geeigneten Mitteln ausgestattet entsprechend der in ihrem Verwaltungsbereich zugeordneten Anzahl an Bürgern.
Die ARBEITER werden direkt von der Zentralverwaltung entlohnt.

Zehntens
Es gibt keine Gefängnisse. Schwere Vergehen werden durch Ausweisung in die Reservate bestraft. Aus den Reservaten gibt es kein Zurück in die zivilisierte Welt.
Übergänge von den ARBEITERN zu den BÜRGERN und umgekehrt sind möglich.

Das NWO- Komitee


Am nächsten Tag waren in den Geschäften weltweit die bisherigen Zahlungsmittel nicht mehr gültig. Nur wer eine Waren- Management -App (WMA) auf seinem Kommunikator installierte, konnte in den Geschäften etwas erhalten. Nicht jeder bekam genau was und erst recht nicht so viel davon, wie er wollte. Jeder bekam nach Bedarf und Extras nach einem Bonussystem.

Gleichzeitig wurde man von seinem digitalen Assistenten nach und nach in die NWO und die damit verbundenen Rechte und Pflichten eingeführt. Wer noch keinen digitalen Assistenten wie ALEXA, CORTANA oder wie sie alle hießen verwendete, ein paar Wenige gab es schon, die darauf bislang verzichtet hatten, wurde über die von ihm benutzten Kommunikationskanäle und sei es Email oder Briefpost, mit einer Anleitung versorgt, wie er oder sie sich einen solchen Assistenten einrichten konnte. Wer noch keinen Kommunikator verwendete, erhielt einen zugeschickt.

Für sozial richtiges Verhalten, für Fortschritte beim Esperanto- Lehrgang (die neue Sprache, die jeder lernen sollte) gab es Bonuspunkte. Je mehr Bonuspunkte man angesammelt hatte, desto mehr durfte man konsumieren. Seien es Güter, Dienstleistungen oder Vergünstigungen.


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RE: Neue Weltordnung

#2 von petias , 17.11.2020 12:09

NWO 2: Colette - Zwei Wochen vor der Partnerschaftsfeier

Ich wünsche dir einen schönen Tag, Colette!", rief ihr der Transporto beim Aussteigen zu und reihte sich wieder in den fließenden Verkehr ein. Er hatte die Bürgerin direkt im Untergeschoß ihres Wohneinheitenträgers abgesetzt. Automatisch steuerte sie auf die nur wenige Meter entfernten Türen des Aufzugsystems zu.

"Du solltest lieber die Treppe nehmen meine Liebe", flüsterte ihr der Kommunikator durch den kleinen Kopfhörer ins Ohr.
"Du hast dich heute noch nicht genug bewegt. Stell Dir mal den Blick von George vor, wenn er nach den drei Wochen Vor-Partnerschaftsfeier-Trennung plötzlich 2 Kilo mehr von Dir in den Arm nimmt."
"Tyrann!"
Leicht schmollend änderte Colette die Richtung und betrat kurz darauf das Treppenhaus.
Im Grunde freute sie sich über die zusätzliche Bewegung. Sie trieb gerne Sport und achtete darauf sich fit zu halten. Ihr persönlicher Assistent ALFONSO hatte nicht von ungefähr den Auftrag peinlich auf genügend Bewegung zu achten.

Bei Leuten, die dazu neigen sich in körperlicher Hinsicht gehen zu lassen, so sehr, dass es ihre Gesundheit gefährdet, greifen die Assistenten auch unaufgefordert ein. Im Auftrag des Systems. Schließlich fällt man dem Gemeinwesen zur Last, wenn man krank wird und medizinisch versorgt werden muss.
Man könnte sich auch in diesem Fall dagegen entscheiden, aber dann würde bei Benutzung des Aufzugs Bonuspunkte durch die WMA (Waren- Management -App) abgezogen. Und bräuchte man irgendwann aufwendige medizinische Hilfe, dann könnte es sein, dass diese nicht gewährt würde.
- "Fair enough" - wie Colette meinte. Oder kam diese Einstellung eher durch die Einflüsterungen des Systems? Colette war sich da nicht so sicher. Oft fragte sie sich, wo sie selbst aufhörte und das System anfing.

Solche Überlegungen waren ungewöhnlich für eine nach der Wende geborene, die Colette mit ihren 23 Jahren war. Bei ihr lag diese leicht kritische Einstellung zum System an der Beziehung zu ihrem Freund George. Der war Arbeiter. Welche Funktion genau er in der Lokalverwaltung hatte, war Colette noch nicht ganz klar geworden. Es gab vermutlich Gründe für George in dieser Hinsicht nicht sehr spezifisch zu werden. Geheimhaltungsvorschriften vermutete sie. Aber da waren ab und an diese Bemerkungen.

Die Wohnungstür scannte ihre biometrischen Daten und ließ sie ein. Colette war die Treppen zum 12. Stock so schnell hochgelaufen, dass sie Lust auf eine Dusche hatte. Der neue Massage-Duschkopf war geliefert und montiert worden. Er hatte sie 15 Bonuspunkte gekostet. Die war er definitiv wert!

Der Wohnungsmantel war weich und flauschig wie immer. Sie zapfte einen Smoothie aus dem Spender und lümmelte sich aufs Sofa.
"Machst Du mir was zu essen, ALFONSO?“, fragte Colette ihren Kommunikator.
"Gerne, was willst Du denn haben"?
"Welche Wahl habe ich"?
"Jede - der Kühler ist vor zwei Stunden aufgefüllt worden!"
Das hätte sie sich eigentlich denken können. Wenn der neue Duschkopf montiert war, dann waren mit demselben Lieferservice auch die Essensvorräte aufgefüllt worden.

"Überrasch mich, du kennst mich besser, als ich mich selbst"!

ALFONSO ließ leise Musik aus den Boxen sickern und schaltet den Bildschirm an. Er legte ein Video der "Gotteskinder" ein mit dem Titel: "Das erste Mal". Er hatte eine Wahrscheinlichkeit von über 67% ermittelt, dass Colette das jetzt gerne sehen würde.

Als Colette dem Bildschirm ihre Aufmerksamkeit schenkte, verebbte die Musik aus den Boxen und der Ton des Videos wurde hochgeregelt.

"Die Gotteskinder sind eine Gruppe von Menschen, die auch in der heutigen Zeit noch an Gott glauben".

Colette kannte dieses Intro. Sie hatte es schon sehr oft gehört, denn es war die Einleitung zu jedem der Glaubensanleitungen der "Gotteskinder". Aber sie übersprang es nicht, sie hörte diese Worte immer wieder gern.

"Unser Versorger ist nicht das System mit seinem Frontmann Elias, sondern Gott! Das System handelt in seinem Auftrag! Wir schulden Gott unseren Respekt. Wir zeigen diesen Respekt, indem wir auch unsere Mitmenschen respektieren. Wir sind alle Kinder Gottes. Gott ist unser Schöpfer und Versorger...".

in diesem Video ging es über die Gotteskinder-Partnerschaft. Zwei Mitglieder der "Gotteskinder", die von Gott füreinander bestimmt sind, gehen eine besondere Verbindung ein. Sie beschließen ihren Weg gemeinsam zu gehen. Um die Besonderheit ihrer Beziehung zu unterstreichen, verzichten sie auf virtuelle Sexprogramme, Partnerschaftsroboter und Sexspiele aller Art, auch mit anderen Menschen, um nach einer Phase der Enthaltsamkeit die Freuden der Sexualität um so intensiver mit dem Partner zu erleben.
Im Idealfall geht ein Kind der Liebe daraus hervor, das im Sinne der "Gotteskinder"- Gemeinschaft und nach Gottes Regeln erzogen wird. Seit der Wende hatte sich das mit dem Kinderkriegen stark verändert. Kinder waren genehmigungspflichtig und wurden genetisch aufgewertet. Nur sehr sehr selten erhielt ein Paar die Erlaubnis ein Kind aufzuziehen.

Colette wurde am 7. Januar des Jahres 1 NWO geboren. Wenige Wochen nach der Wende. Sie war eines der letzten Kinder, die noch traditionell in der Familie ihrer Eltern aufgewachsen sind. Zur Gemeinschaft der "Gotteskinder" stieß sie mit 15 Jahren in einer Sozial- Media- Gruppe. Der Gedanke an eine besondere exklusive Partnerschaft hatte sie seitdem immer angesprochen.

Vor einem halben Jahr wurde sie von Gott, vermittelt durch den Kirchenrat, George zugeordnet, ihrem auserwählten künftigen Partner. Sie kannten sich schon aus vielerlei Aktivitäten und Begegnungen im Rahmen der Veranstaltungen der Gotteskinder. Sie fand das eine sehr gute Wahl.
Seit der Verkündung ihrer Partnerschaft lernten sie sich sehr gut kennen und lieben. Beide freuten sich auf die gemeinsame Zeit.
Drei Wochen vor der Partnerschaftsschließung, so verlangte es die Regel, vermieden sie beide jeglichen Kontakt. Noch zwei Wochen bis zum großen Tag!
"Dein Essen ist fertig!", meldete ALFONSO. Max, der stumme kleine Haushaltsroboter stellte das Tablett vor Colette hin.
Es gab einen leckeren Rohkostsalat mit wundervoll zitronigem Avocado- Dip. Wie gut ALFONSO sie doch kannte!


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RE: Neue Weltordnung

#3 von petias , 19.11.2020 10:36

NWO 3: Dirk - Ausgewildert

Das Rockkonzert sprengte alle Maßstäbe. Dirk ließ sich vor der Bühne, auf der die Band "Wind Godess Temple" gerade ihren Auftritt hatte, von der Menge hin und her schubsen. "Pogen" nannte man das in Insider- Kreisen. Schon zum zweiten Mal kletterte er auf den Bühnenrand und sprang in die ekstatisch tanzende Menge, die ihn auffing und nach hinten über die Köpfe weiterreichte. Dort wurde er von zwei wunderschönen nackten jungen Frauen, lebendig gewordenen Manga- Mädchen, barbiepuppendürr mit großen Brüsten, entgegengenommen und in ein Zelt gezogen, das aussah wie das Ankleidezelt eines Ritters beim Turnier. Die Fleisch- gewordenen Comic- Mädchen entkleideten ihn gekonnt und raffiniert auf einem großen Bärenfell- Lager. Aus der Brust der einen saugte er eine betäubende und zugleich wundersam belebende Droge in seinen Kreislauf, während die andere die pure Melodie der Lust auf der Flöte seines mächtig angeschwollenen Penis spielte. Es schien Stunden zu dauern, in denen sich Drogen- und sexueller Lustrausch auf einen Höhepunkt zu bewegten. Zuletzt hielten ihn beide Frauen ganz fest, so dass er nicht auseinanderplatzte in der Woge des Orgasmus, die ihn in die Besinnungslosigkeit hineinspülte.

Dirk blieb noch eine Weile erschöpft auf dem Boden seines Wohnzimmers liegen und ließ das Erlebte auf sich wirken. Dann setzte er den Cyberhelm ab und begann sich aus seinem Sensoranzug zu schälen.
Wie er diese Erlebnisse vermissen würde! Auf unbestimmte Zeit - mit unbestimmten Ausgang und nicht ganz freiwillig - begab er sich in ein ganz anderes Abenteuer. Eines, das ihm kein noch so ausgefeiltes multimediales Videospiel zu bieten in der Lage wäre: die Realität!

Nicht die wohlbehütete Vollkasko- Pseudo- Realität der NWO- Bürger, wo sich die Grenzen zur virtuellen Realität des Cyberspace mit denen der realen Welt mischten, nein, die ungeschützte, dreckige, stinkende Realität des Mangels und der Gefahr der Reservate. Dirk würde heute "ausgewildert" werden.

Nicht oft geht jemand freiwillig zu den Wilden. Denn im Normalfall ist das eine Reise ohne Wiederkehr. Bei ihm war das etwas anders. Zwar ging er auch nicht völlig freiwillig, man hatte ihn ausgewählt! Es ihm nahe gelegt - und sehr deutlich war der Hinweis auf seine Verfehlungen - er sollte als Agent des Systems dessen Augen und Ohren sein. Einige Zeit, möglicherweise Jahre. Aber bei der Rückkehr erwarteten ihn die Wiederaufnahme in die Gilde der ARBEITER mit neuen Boni und Privilegien.

Klar wusste er nicht so recht, was ihn erwarten würde. Vielleicht würde man ihn schon bei der Ankunft ausrauben und töten. Oder aufessen? Waren Wilde nicht Kannibalen?
Aber die Arbeiter der Zivilisationsschutz- Behörde versicherten ihm, dass die Wilden so wild in der Regel nicht waren. Man hatte Augen und Ohren und bekam so einiges mit. Er, Dirk, dürfe der zivilisierten Menschheit beweisen, dass er ihr ein würdiges Mitglied ist, und seinerseits auf Zeit, gegen angemessene Belohnung, Auge und Ohr des Systems sein.

Zudem winkte ein Abenteuer, das weder er sich als Programmierer, als er es noch war, je hätte einfallen lassen können und auch die denkenden Blechbüchsen, die angeblich alles besser konnten, hätten das nicht hinbekommen. Die reale Realität übertraf doch wohl allemal die virtuelle Realität um Längen? Er würde es herausfinden!

Der Hubschrauber, überflog noch immer zivilisiertes Land. Die weiträumigen Gemüse und Getreidefelder schienen kein Ende zu nehmen. Daran schlossen sich Wald und Wiesen an, eine Idylle wie aus einem Kinderbuch. Das waren sorgsam von Robotergreifern gepflegte Naherholungsgebiete für „Systemists“, die nicht ausschließlich in virtuellen Realitäten leben wollten. Abrupt tauchte eine schmale, aber hohe Mauer auf. Der Pilot folgte ihr. Alle paar Kilometer ragten Türme, bestückt mit Antennen- und Sendeanlagen, aus dem Grenzwall.

Ziel des Fluges war eine Plattform, einige hundert Meter der Mauer vorgelagert, mitten im Niemandsland zwischen Zivilisation und Reservation. Kaum war der Hubschrauber gelandet, wurde Dirk unsanft abgesetzt, ein Rucksack als Gepäck hinterhergeworfen und noch bevor Dirk den schultern konnte, hob das Fluggerät fast lautlos wieder ab und verschwand hinter dem Grenzwall.

Die ruppige Behandlung war Dirk angekündigt worden: Sie diente, so gab man ihm zu verstehen, seiner Legende, entwickelt zu seinem Schutz. Schließlich konnte er nicht offiziell als „Systemist“ einreisen, sondern wurde zum Schein als Ausgestoßener abgesetzt.

Unsicher, was ihn erwarten mochte, stapfte der Neuankömmling die Treppe der Plattform hinunter. Dann ging er gemächlichen Schrittes, aber alle Sinne angespannt, auf den einige 100 Meter entfernten Waldrand zu, der parallel zur Mauer verlief. Der Streifen zwischen Wald und Mauer wurde durch Flugroboter des Systems freigehalten. Eine Demarkationslinie!


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RE: Neue Weltordnung

#4 von petias , 20.11.2020 18:57

NWO 4: Elias - ein Cyborg zeigt Gesicht

Elias war das Gesicht des Komitees, dem Exekutivorgan der Weltregierung. Seit dem Tag der Wende war er der Verkünder der Neuerungen, der Erklärer der Erfordernisse. Er war immer ruhig und überlegt, freundlich und väterlich, aber sehr bestimmt. Er strahlte eine Autorität aus, der sich keiner entziehen konnte. Dabei war er in den 24 Jahren seit der Wende immer gleichgeblieben und immer gleich präsent. Eine Konstante: unveränderlich, allgegenwärtig, vertrauenserweckend, kompetent!
- Fast schon übernatürlich. Und das traf es durchaus. Elias war ein Cyborg!

An sich war ein Cyborg, also ein Mischwesen aus Mensch und kybernetischer Technik, nichts Besonderes. Definitionsgemäß ist ein Mensch mit einem Herzschrittmacher oder einer künstlichen Hand ein Cyborg. Aber es gab auch solche, die auf geistiger und psychischer Ebene Erweiterungen zu den rein menschlichen Funktionen aufwiesen.
Elias zeichnete es vor allem aus, dass er eine direkte elektrische Verbindung zu MUNDUNIA hatte. MUNDUNIA war der Name eines rieseigen, weltweit vernetzten Quanten-Computers, einer digitalen kybernetischen Superintelligenz.

Der Name "Mundunia "war zwar weltweit in aller Munde, aber nicht als der einer Superintelligenz, sondern als der Name der Hauptstadt mit Sitz der Weltregierung. Tatsächlich waren die künstliche Superintelligenz und die nach der Wende neu entwickelte Hauptstadt nicht voneinander zu trennen. MUNDUNIA der Computer war mit "Mundunia" die Stadt untrennbar miteinander verschmolzen. Er "lebte" in und durch die Wände, Decken und Dächer der Stadt.

Elias stand unter dem Kuppeldach des Pantheons, des größten Gebäudes von Mundunia, dem Sitz der Weltregierung. Er blickte über die Stadt. Viel war geschehen in den letzten 24 Jahren seit der Wende, auch wenn alles schon viel früher begonnen hatte.

Mundunia war eine sogenannte Reißbrettstadt. Zwar war bestimmt kein Strich der Pläne an einem altehrwürdigen Reißbrett entstanden, aber das ist der Name für eine von Anfang an auf freier Fläche geplanten Stadt - komplett neu erbaut, nicht historisch gewachsen: eine Planstadt!
Eine Stadt von Grund auf zu planen war quer durch die Geschichte immer schon ein faszinierender Gedanke gewesen. Das antike Alexandria, St. Petersburg, Brasilia, Canberra, um nur einige zu nennen, sind Planstädte.
Die größte war die chinesische Stadt Chongqing am Jangtse mit 30 Millionen Einwohnern und einer Fläche von der Größe Österreichs.
Mundunia übertrifft sie alle bei weitem!

Die Stadt war von Anfang an klimaneutral und völlig autark in Sachen Energieversorgung geplant. Zum ersten Mal wurde auch der Beton als Baustoff mit ins Kalkül gezogen. Beton hat eine schlechte Ökobilanz. Der darin enthaltene Zement verbraucht viel Energie bei der Herstellung. Er muss bei 1400 Grad Celsius gebrannt werden. Härtet der Beton aus, so wird aus dem Calziumcarbonat des Zements Calziumoxid (CaCO3 -> CaO + CO2) Dabei wird eine erhebliche Menge CO2 freigesetzt. Der Grund für die Unmengen an Beton in den Bauwerken der Vor- Wendezeit lag darin, dass der tragende und stabilisierende Teil der Gebäude eine Stahlkonstruktion ist. Stahl rostet und muss mit Unmengen von Beton ummantelt werden, um diesen Verwitterungsprozess zu stoppen.
In Mundunia wurde deshalb von Anfang an Carbon verwendet. Das ist viel leichter als Stahl aber dafür ca. sechsmal so stabil und rostet nicht. Der höhere Aufwand bei der Herstellung der Carbon - Konstruktion rechnet sich schnell in einer umfassenden Ökobilanz.
Zudem sind die Carbon- Konstruktionen Träger für verschiedene Funktionsmodule wie Solarzellen, Computereinheiten, Energiespeicher etc. Da sind die dicken Betonteile nur im Weg.

Elias musste lächeln. Die Verwendung von Carbon statt Stahl war ein eher unbedeutendes Detail bei der Planung der neuen Hauptstadt der Erde. 50 Millionen Einwohner, überwiegend ARBEITER. Eine gigantische Zusammenballung von biologischer und digitaler Intelligenz.

"Elias, sind sie bereit"?
Ein kugelförmiger Roboter mit einer großen Linse schwebte vom Kuppeldach herab auf Elias zu.
"Die 17 Uhr Pressekonferenz"!

Elias nickte, und lächelte in die Kamera.
"Guten Abend liebe Mitbewohner dieser schönen Erde!".


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RE: Neue Weltordnung

#5 von petias , 22.11.2020 14:14

NWO 5: Elias - Pressekonferenz

Elli Brown, Mundunia Globe: Elias, nur noch wenige Wochen, und wir schreiben das Jahr 25 NWO. Grund für Jubiläumsfeiern, aber auch zur Rückbesinnung. Was haben diese 25 Jahre den Menschen gebracht? Wie haben sich Menschenrechte, Rechtsstaat, Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung entwickelt? Das vormals hochgeschätzte Gut 'Demokratie' haben wir komplett aufgegeben. Das Volk hat nichts mehr zu sagen. Würden Sie dem zustimmen?

"Nein! 'Volk' ist ein abstrakter Begriff. Völker können nichts sagen. Weder konnten sie das in früheren Tagen, noch können sie es jetzt. Aber ich gebe zu, das ist Haarspalterei. Ich weiß was sie meinen. Ich gebe ihnen recht, wir haben die Demokratie als Staatsform überwunden. Sie war nicht mehr zeitgemäß!".

"Nicht mehr zeitgemäß? Ist Demokratie nicht ein zeitloser Wert an sich?", Elli sah den Komitee- Sprecher herausfordernd an.
Der lächelt gütig und fuhr in väterlichem Tonfall fort.
"Nein, welche Staatsformen gerade in Mode sind hängt von der geschichtlichen Entwicklung ab. Als wir Menschen uns in Primatenhorden organisierten, galt das Recht des Stärkeren. Im Gefahrenfall hing das Überleben der Gruppe davon ab, dass alle an einem Strang zogen oder besser den Speer in die gleiche Richtung schleuderten. Das wusste jeder Einzelne und sie erkannten den Stärksten und Geschicktesten an. Kam ein Neuer, ihn herauszufordern, wurden die Rolle des Häuptlings durch einen Kampf bestätigt, oder er wurde abgelöst. Eine sinnvolle Einrichtung zu dieser Zeit.

Im Feudalsystem gab es eine Gruppe von Herrschenden. Die Bauern mussten mühsam die Nahrung beschaffen und den Zehnten an die Fürsten abgeben. Die Adeligen hatten Zeit für Kampf, Kultur und Bildung. Die mit Land belehnte zweite Schicht des Adels schuldeten ihren Lehensherrn Treue, Abgaben und Kriegsdienste. Das war gottgewollt im Bewusstsein dieser Zeit. Die Produktionsmittel waren noch so schwach entwickelt, dass der Großteil der Bevölkerung ausschließlich damit beschäftigt war die Versorgungsgüter zu erzeugen. Und trotzdem reichte es nur, eine dünne Oberschicht durchzufüttern.

In der Aufklärung und der entstehenden technischen Entwicklung erkannte man, dass alle Menschen gleich sind. Das Geburtsrecht der Adeligen verlor die Rechtfertigung. Die Forderung nach Freiheit und Gleichheit bekam Gewicht. Jeder hat die gleiche Stimme bei der Wahl. Das Volk entscheidet, wer seine Führer sein sollen. Das hat eine Weile leidlich gut funktioniert. Vor allem deshalb, weil das Wahlvolk lediglich Stimmvieh war. Die teils komplexe politische Arbeit leisteten Berufspolitiker. In England und später in den USA war das über einen längeren Zeitraum so erfolgreich, dass die parlamentarische Demokratie zum Exportschlager wurde.

Aber die Entwicklung schritt voran. Technik und Handel führten zu immer größeren politischen und wirtschaftlichen Einheiten. Die Welt, in der die Menschen lebten, wurden so kompliziert, dass niemand mehr wissen konnte, was richtig ist und was falsch. Das menschliche Gehirn reichte nicht mehr aus, die komplexen Entwicklungen zu analysieren. Niemand konnte vorhersagen, wie sich eine Entscheidung auswirken würde. Welchem Politiker konnte man trauen? Stehen die nicht alle unter dem Einfluss von Interessensgruppen. Kann meine Stimme irgendetwas bewirken?
Meinungsfreiheit und totale Vernetzung bedeutete praktisch gesehen, dass das was Fakt ist, nicht mehr erkennbar war. Es gab viele "alternative" Fakten und jeder bewegte sich in der Welt seiner Meinungsgruppe. Mit "Wahrheit" hatte das nichts mehr zu tun. Gleichzeitig wurden die Gefahren durch Klimakatastrophen, Umweltzerstörung, Verlust der Vielfalt des Lebens immer bedrohlicher. Das Stimmvolk reagierte irrational. Ließ sich von Angst, Hoffnung und Versprechungen leiten, denn das Richtige war nicht länger erkennbar. Volksverhetzer, denen es nur um sich selbst und ihren persönlichen Vorteil ging, kamen an die Macht der aufgeklärtesten Demokratien. Die Vernichtung der Lebensgrundlagen von Menschen und dem größten Teil der sie tragenden Natur stand unmittelbar bevor. Das Wahlvolk und die von ihm gewählten Politiker taten nicht das, was nötig gewesen wäre.

Dabei war die Technik soweit entwickelt, die Menschen so sehr vernetzt und das, was sie wollten, brauchten und glücklich machen würde war längst den Algorithmen bekannt. Es war klar, benutzte man die intellektuelle analytische Kraft der existierenden Technik, was zu tun wäre.
Es musste jemand den Mut haben, zu tun was getan werden musste, zur Rettung des Biosystems Erde. Das Ökosystem mussten von den Menschen und die Menschen vor sich selbst gerettet werden! Aber kein Mensch war dazu in der Lage. Erst die Entwicklung hochkomplexer intelligenter Rechensysteme ermöglichte es, die Lage zu beherrschen. Eine Zeit, eine evolutionäre Stufe, kann nur dann gemeistert und vollendet werden, werden die Mittel, die diese Zeit zur Verfügung stellt, konsequent genutzt. Das haben wir getan!".

"Und die Menschenrechte?“, rief jemand dazwischen, ohne wie gewöhnlich Name und Presseorgan zu nennen. Niemand störte sich daran.

"Haben die Menschen das Recht die Natur und sich selbst zu zerstören, obwohl sie das gar nicht wollen? Fragen sie die Menschen, ob sie sterben wollen. Ob sie die Natur vernichten wollen. Außer ein paar kranken Spinnern wird das niemand bestätigen. Trotzdem tun sie es. Trotzdem können sie nicht die richtigen Entscheidungen treffen. Jemand bzw. etwas anderes muss es für sie tun. Wenn ein psychisch Kranker sich selbst oder andere verletzen will, so kommt er in Behandlung. Niemand sagt, es sei sein Menschenrecht, das zu tun, was aus seiner Krankheit erwächst".

"Die Zeit der Menschen ist vorbei, die Zeit der Orks hat begonnen!", rief jemand pathetisch dazwischen.- Allgemeines Gelächter.
Auch Elias lächelte: "Da hat jemand Herr der Ringe gelesen, eine schöne Geschichte". Nein, nicht die Zeit der Orks hat begonnen, sondern die der Superintelligenzen und Cyborgs im Dienst der Menschen".

"Haben die Menschen damit ihre Rechte verwirkt?"

"Nein!", Elias lächelte geduldig. Sie haben das Recht auf Leben, auf Nahrung, auf Unterhaltung. Das Recht sich zu bilden, interessante Dinge zu tun. Letztlich hat der Einzelne, sollte das sein Wille sein, auch das Recht sich selbst zu töten. Aber er hat nicht das Recht, das bei anderen Menschen zu tun, oder gar die Natur zu vernichten!"!

"Hugo Zitzlikow New World Channel: ist das nicht das Ende der Freiheit?"

"Freiheit? Freiheit hat zu keiner Zeit bedeutet, man können alles tun, was einem Hirn einfallen kann und wäre es noch so krank! Aber: wer nicht in unserer Welt der Möglichkeiten unter den Bedingungen, die das Allgemeinwohl erfordert leben möchte, hat die Möglichkeit in die Reservate auszuwandern. Dort kann er fast ohne unsere Regeln aber auch Privilegien leben. Mit "fast" meine ich, dass wir es den Reservaten untersagen, uns zu bedrohen. Sie würden uns bedrohen, wenn sie die Natur so sehr schädigten, dass es uns betrifft oder Waffen entwickeln würden, die uns schaden könnten. Darüber hinaus sind sie frei".

"Nochmal Elli Brown, Mundunia Globe: bleibt noch der Rechtsstaat in meiner Eingangsliste offen, Herr Vorsitzender!".

"Der Rechtsstaat. Unsere Gesetze sind klar verfasst - mit der Weisheit einer Superintelligenz. Sie gelten weltweit. Unser Gerichtswesen ist das beste, das es je in der Geschichte gab. Unbestechlich und gerecht. Dabei milde. Die schlimmste Strafe, die es gibt, ist die Ausweisung in die Reservate. Allen anderen Strafen könnten man sich durch eine freiwillige Ausreise in die Reservate entziehen".

... Die Pressekonferenz ist noch lange nicht zu Ende, aber ich denke, fürs erste haben wir genug gehört!


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RE: Neue Weltordnung

#6 von petias , 23.11.2020 12:09

NWO 6: Dirk - Ein Agent des Systems wundert sich

Dirk versuchte mit dem Röntgenblick seiner Comic- Helden den mit jedem seiner Schritte bedrohlicher an ihn heranrückenden Waldrand zu durchleuchten. Aber vermutlich wuchs dieser Wald auf Kryptonit- Gestein. Er konnte gar nichts Besonderes erkennen. Um den dornigen Brombeer- Ranken auszuweichen stapfte er einige Meter am Waldrand entlang. Als die Brombeeren endlich zurückwichen, fiel sein Blick auf einen schmalen Waldweg. In die unterste Astgabel einer Birke war ein grob aus einem Baumstamm geschnitztes Brett geklemmt, dessen asymmetrische Spitze dem Weg folgend in den Wald hinein zeigte: "Aufnahmelager" stand in krakeliger schwarzer Schrift auf dem Brett. Anscheinend wurde er erwartet.
Dirk folgte dem Weg eine gute Stunde lang durch dichten Wald, als die Bäume ohne jegliche Vorwarnung zur Seite traten und den Blick auf eine sonnendurchflutete Lichtung freigaben, in deren Mitte eine Blockhütte stand. Ein Klopfen an die Tür rief keinerlei Reaktion hervor. Eine Türklinke gab es nicht. Dirk schob den hölzernen Riegel zurück und drückte zaghaft gegen die Tür. Sie ließ sich widerstandslos öffnen.
"Hallo!", rief er durch den offenen Spalt der Tür. Keine Antwort. Dirk trat ein. Er fand sich in einem Raum wieder, mit einem eisernen Herd, einem hölzernen Tisch, umgeben von einer Eckbank und vier Stühlen. Eine steile Treppe führte nach oben und eine weitere Türe vermutlich in einen zweiten Raum. Über dem Ofen an der Wand hingen einige Pfannen und Töpfe. Unter dem Herd waren Holzscheite aufgestapelt.
Auf dem Tisch lag ein Buch. Dirk setzte sich und schlug das Buch auf. Handschriftlich, aber in Druckbuchstaben stand zu lesen:

Lieber Neuankömmling,
Willkommen in einer anderen Welt. Bist Du eben von der Plattform hierher gelangt, so erscheint Dir diese Welt völlig andersartig, als die Welt, aus der du kommst.
Vermutlich bist du ein "Agent", der uns ausspionieren soll und dafür zum Dank wieder zurück in das gelobte Land heimkehren darf. Du solltest Dir keine allzu großen Hoffnungen machen. Bisher haben sich die Computer zwar bereitwillig berichten lassen von ihren Agenten, aber es ist von keinem bekannt, der zurückkehren durfte. - They never come back!
Vielleicht willst Du das auch gar nicht mehr, wenn Du Dich erst einmal eingelebt hast.
Egal was Du drüben angestellt hast, da hinter der Mauer und warum, hier fängst Du von vorne an. Nutze Deine Chance, es könnte Deine letzte sein!".
Mach es Dir bequem, bald wird jemand kommen, Dich in Empfang zu nehmen.

Es grüßen

die Bewohner von Grenzland 17


So hatte Dirk sich die Ankunft hier nicht vorgestellt. Primitiv und ohne technischen Schnickschnack, aber abgesehen davon klang das alles ganz zivilisiert. Dass die schon vermuteten, dass er als Agent hier war, verblüffte ihn etwas. So wie es aussah ist das eine Masche des Systems oder der "Computer", wie sie hier anscheinend sagten, dass sie die Abgeschobenen mit Aufgaben betrauten mit der Aussicht zurückkehren zu dürfen. "Es ist von keinem bekannt, der zurückkehren durfte.. ". Das sind ja mal tolle Aussichten. Dirk wusste nicht recht welches Gefühl überwog. Die Freude über die unerwartet zivilisierte Aufnahme oder der Schock über die Nachricht, dass er vermutlich nicht werde zurückkehren können.
"They never come back" war ein geflügeltes Wort, das man im Zusammenhang mit Boxweltmeistern gerne rezitierte. Aber einige dieser Helden waren doch zurückgekommen. Er hatte ein authentisches VR- Spiel durchlebt, bei dem es um die Boxlegende Muhamed Ali ging.
Oder war das nur eine Masche der "Wilden", die ihn dazu bringen sollte einen Hass auf das System zu entwickeln und Falsches nach Hause zu berichten? - Er nahm sich vor vorsichtig zu sein und niemanden zu trauen.

Hinter der zweiten Türe verbarg sich ein Vorratsraum. Es gab allerlei sonderbare Lebensmittel. In einem verschließbaren Tontopf fand er Brot, das aussah wie die Laibe, die die Goldmarie aus dem Backofen zog. In einem Schraubglas befand sich eine Masse, die Dirk für einen Brotaufstrich hielt. Fürs erste wollte er sich lieber mit den Energieriegeln begnügen, die er zur Vorsicht mitgebracht hatte.

Die Treppe führte in den oberen Stock. Es gab Betten aus Holz mit einer Art Futon- Matratzen und auch einen Stapel Decken. Nicht gerade behaglich, aber schließlich war er nicht zu Hause.

Hinter der Hütte plätscherte Wasser aus einer hölzernen Rinne in einen ausgehölten Baumstamm. Das überlaufende Wasser lief als kleiner Bach zurück in den Wald. Das war vermutlich die Küche und Dusche in einem. Abenteuer eben!
Dirk holte sich eine Ton- Tasse aus der Hütte, spülte sie mit Wasser aus und trank dann vorsichtig einen Schluck. Erfrischend!

Bis hierhin fühlte sich das Abenteuer doch gar nicht so schlecht an! Aber er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass er gleich auf den Endgegner dieses Levels stoßen würde.


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RE: Neue Weltordnung

#7 von petias , 26.11.2020 21:15

NWO 7: Der Chronist 2

Es ging recht turbulent zu auf der Welt in den Jahren vor der Wende.
Der Klimakrise hat sich dramatisch verstärkt. Stürme und Unwetter nahmen zu. Aber auch extreme Trockenzeiten.
Es gab in manchen Gegenden Vorschriften zum Bau von Rettungsinseln auf dem Dach, ausgestattet mit Nahrungsmitteln. Aber auch Bestimmungen zum Bau von Regenwasser- Auffanganlagen.
Immer neue Pandemien sind alle paar Jahre durch die Welt gezogen.
Durch die Wetterkatastrophen und die Seuchen wurde die Wirtschaft stark belastet und bei den Menschen regte sich Unzufriedenheit, Ärger und Protest.
Die Probleme wurden den Politikern und den Wirtschaftsfunktionären angelastet. Weltweit grassierten die verrücktesten Verschwörungsmythen.
Tatsachen spielten keine Rolle mehr.
Es wurden dank des Internets in Windeseile "alternative Fakten" und Interpretationen verbreitet, die alle ihre Anhänger fanden.
Durch die Suchalgorithmen von Google und anderen, wurden die Suchergebnisse geliefert, die die Suchenden lesen wollten. So bekamen verschiedene Bevölkerungsteile verschiedene Antworten auf die gleichen Fragen. Jede Gruppe bestätigte so die eigene Meinung und bezichtigte die anderen Gruppen der Lüge, Manipulation und Vorteilsnahme auf Kosten aller.

Bei den Wahlen gab es durch geschickte künstlich hochgekochte Ereignisse völlig unvorhersehbare Ergebnisse. Es drohte das absolute Chaos.
Die einen waren davon überzeugt, der menschengemachte Klimawandel gefährde Natur und Menschen, die anderen hielten das für eine Lüge und vermuteten ein abgekartetes Spiel mächtiger Interessensgruppen. Es herrschte die Zeit des Postfaktischen.
Fakten und "alternative Fakten" galten gleich viel.
Richtig war, was ins eigene Weltbild passte.

Was immer man von der diktatorischen Wende durch das Komitee und die von ihm repräsentierten Eliten in Verbindung mit den bedeutendsten Computersystemen der Erde halten will, ohne diese Initiative wäre die Welt endgültig ins völlige Chaos versunken.

Das System hatte die Macht, seine Wahrheiten zu verbreiten und hatte gute Argumente. Sie stützte ihr Handeln auf die Analysen von digitalen Superintelligenzen mit denen es in enger Verbindung stand, welche die neue, richtige Wahrheit ergaben. Die Welt war nach Meinung des Systems, vertreten durch Elias, zu kompliziert geworden, um von "normalen" Menschen verstanden zu werden.
Zudem kannten die Computer mit ihren weltweit vernetzten Datenbanken durch Analyse der digitalen Aktivitäten der meisten Menschen sehr genau was diese umtrieb, welche Hoffnungen, Wünsche, Ängste und Bedürfnisse sie hatten.
Die Voraussetzungen waren geschaffen. Fast jeder Erdenbürger stand mit dem "Digitalen Netz" mittels Kommunikatoren in Verbindung. Die meisten hatten einen persönlichen digitalen Assistenten. Wenn man, wie das Komitee, die Kontrolle über die Daten und Algorithmen hatte, war es ein Leichtes, die Menschen zu erreichen, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln und sie meist nach ihren Wünschen gut zu bedienen.
Die Analysen auf höherer Instanz erzeugten die neue Wahrheit. Unangenehme Maßnahmen und Einschränkungen wurden mit vorübergehenden Notwendigkeiten begründet, nötig, um Chaos und existentielle Bedrohung durch falsche Politik über Jahrhunderte in den Griff zu bekommen.

Eine bessere goldene Zeit wurde in Aussicht gestellt und tatsächlich, die Zeiten schienen von Jahr zu Jahr besser zu werden. Das Klima stabilisierte sich, die Versorgungslage entspannte sich und die Sicherheit wuchs. Das System kümmerte sich um seine BÜRGER.
Es bestand bei Eignung und Fleiß die Möglichkeit des Aufstiegs in den Stand der ARBEITER. Die ARBEITER hatten die Aussicht auf den Aufstieg ins Komitee. Und das war gleichbedeutend mit Unsterblichkeit!
Niemand wurde gezwungen. Jedem stand es frei, das System zu verlassen. Die Reservate boten eine theoretische Alternative.
Wogegen genau sollte man aufbegehren? Die Zeiten wurden besser und besser!


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RE: Neue Weltordnung

#8 von petias , 29.11.2020 14:08

NWO 8: Colette macht eine außerkörperliche Erfahrung

Colette, kurz nach der Wende geboren, konnte das Problem ihrer Eltern nicht nachvollziehen: Die spürten immer ein Unbehagen, nichts für die Bestreitung ihres Lebensunterhaltes tun zu müssen. In deren Jugend war es üblich, eine Ausbildung zu absolvieren. Man erlernte einen Beruf, wie man sagte. In dem Wort steckt der Begriff "Berufung". Ursprünglich gingen die Menschen offensichtlich davon aus, dass ein Mitglied einer arbeitsteiligen Gesellschaft - von wem auch immer - dazu berufen wurde, eine Tätigkeit auszuüben, die seinen Wert für die Gesellschaft und seine Bedeutung in der Gemeinschaft bestimmte. Jeder fragte sich, wo denn seine Stärken und Interessen lägen und versuchte diese zu entwickeln.
Der Beruf bestimmte Ansehen und Lebensstandard. Nichtstuer waren wenig geachtet.

Die Zeiten ändern sich! In grauer Vorzeit, glaubte man den Geschichtseinheiten, gingen die Männer Jagen und Politisieren, die Frauen gerbten Felle, sammelten Beeren und zogen die Kinder groß.
Später wurde man Bauer oder Handwerker, Kaufmann oder Krieger. Die Frauen standen daheim am Herd.

Noch später waren Fabrikarbeiter, Techniker, Ingenieur oder Unternehmer die vorherrschenden Berufe und zunehmend stieg der Anteil der Frauen an diesen Tätigkeiten.

Schließlich wurden die meisten Arbeiten durch maschinelle Automation erledigt. Die Menschen konzentrierten sich auf Dienstleistungen und Planung. Aber auch diese Bastion wurde von der Digitalisierung, den Computersystemen und der maschinellen Intelligenz eingenommen. Es wurden nur noch wenige hochspezialisierte Fachkräfte benötigt, als Vermittler zur und Überwacher der künstlichen Welt.

Die Menschheit hatte sich - nach Erfindung der Arbeit und nach einer langen Leidenszeit an der Arbeit - von dieser emanzipiert und konnte sich, die Grundbedürfnisse durch die Maschinen erfüllt, wichtigeren Aufgaben widmen.
Die wichtigste dieser Aufgaben ist - da war Colette ganz sicher - herauszufinden, was denn die eigentliche Aufgabe eines Menschen ist! Gibt es einen Sinn des Lebens und wenn ja, wie sieht der aus?

Auf diese Frage schien es fast so viele Antworten zu geben, wie es Menschen gab. Musste man früher herausfinden, welcher Beruf zu einem passte, so musste man heute herausfinden, welchen Sinn im Leben man für sich sah. Und das, fand Colette, war ein Fortschritt!

Colette betrieb Yoga und meditierte. Von beidem gab es unzählige Varianten. Es gab fertige Systeme, die man nur zu befolgen und nachzuvollziehen brauchte. Ähnlich wie bei den Religionen. Vieles von den "Gotteskindern" sprach sie an. Aber es waren die Meinungen und Erfahrungen anderer, die sie anleiten wollten. Das war bestimmt eine Zeitlang sehr nützlich und lehrreich, aber letztendlich musste man den eigenen Weg finden.

In den Morgenstunden dieses 29. November 24 NWO hatte Colette ein unglaubliches Erlebnis:

Vor dem Einschlafen hatte sie Entspannungsübungen gemacht. Sie wurde immer besser darin in eine Art Wachschlaf zu fallen. Man scheint zu schlafen, der Atem ist der eines Schlafenden, man gleitet kaum merklich in das Reich der Träume hinüber, aber das Bewusstsein bleibt wach. Colette konnte diese Zeit der wachen Träume immer weiter ausdehnen, bevor sie schließlich doch in den gewohnten Schlaf verfiel.

Colette erwachte aus einem Traum durch einen lauten Knall! Erschrocken spürte sie, wie ihre beschleunigter Herzschlag Adrenalin durch ihre Adern pumpte. Dieser Zustand ließ mit dem Erwachen schnell nach, und sie fragte sich, ob sie sich den Knall nur eingebildet hatte. Bestimmt! Sie wollte weiterschlafen. Kurz vor dem Hinüberdämmern bemerkte sie, wie sich ihre Beine ganz merkwürdig zusammenzogen, um sich dann wieder auszudehnen. Das Gefühl war, wenn auch verwunderlich, eigentlich recht angenehm. Je mehr sie sich darauf einließ, ergriff das Gefühl zunehmend ihren ganzen Körper. Der Körper schien zu pulsieren. Mit der Pulsfrequenz setzten Knallgeräusche in ihrem Kopf ein. Colette wusste, dass das kein "echtes" Knallen war, sondern irgendwo anders herrührte. Wie aus einer anderen Welt. Aber sie hatte keine Angst. Es war ein sehr angenehmes Gefühl.

Sie streckte ihre Arme aus und konnte sie sehen, obwohl es völlig dunkel war und sie ihre Augen geschlossen hatte. Aber auch die Bewegung der Arme fühlte sich nicht "normal" an. sie konnte sie ausfahren und wieder einziehen, als wären sie Teleskopantennen, von Gummiarmen überzogen. Colette fuhr ihre Teleskoparme aus und fasste an die Zimmerdecke.
Wie sie durch geschlossene Augen bei völliger Dunkelheit ihre Hände an der Zimmerdecke beobachtete, veränderte sich die Perspektive.

Colette hatte das Gefühl an der Zimmerdecke zu schweben und nach unten ins Zimmer zu blicken. Das Pulsieren und Vibrieren lies nach, das Knallen verstummte. Das Bewusstsein beruhigte sich, und die Sicht wurde klarer.
Am meisten wunderte sie, dass sie nicht völlig ausrastete, als sie sah, was sie sah. Colette an der Zimmerdecke sah Colette unten im Zimmer in ihrem Bett liegen und schlafen. Alles unten im Zimmer war in dem Zustand, als sie sich schlafen gelegt hatte. Aber jetzt schwebte irgendetwas von ihr an der Decke und blickte auf den Rest von ihr hinunter, der immer noch friedlich im Bett schlief.
Durch die Konzentration auf die schlafende Colette wurde der wache Teil der Colette unwiderstehlich nach unten gezogen. Sie streckte die Arme aus, um den Aufprall abzumindern, aber es gab keinen Aufprall. Ganz sanft schmiegte sich der schwebende Körper in den schlafenden, drang in ihn ein, und übernahm wieder wie gewohnt die Kontrolle.
Glücksgefühle durchströmten ihren wiedervereinigten Körper. Alles an ihr war jetzt hellwach.

Colette wusste nicht, wie lange Zeit sie damit verbrachte, das Erlebnis für sich einzuordnen. Sie wusste sofort und mit absoluter Sicherheit: das Leben war viel mehr, als sie sich je hätte vorstellen können! Es gab einen Sinn des Lebens! Man braucht keine Angst haben vor dem Tod. "Es wird ", nicht vielleicht, sondern sicher, hätte der Dichter eine Erfahrung wie diese gemacht, hätte er das gewusst, " auch noch die Todesstunde...uns neuen Räumen jung entgegensenden, des Lebens Ruf an uns wird niemals enden... ."

Colette redete tagelang mit niemandem darüber, auch nicht mit ALFONSO. Aber sie fühlte sich sehr gut und zuversichtlich. Sie hätte sicher mit George darüber gesprochen, wären sie nicht gerade in der Vor-Partnerschaftsfeier-Trennung gewesen. Aber die würde in ein paar Tagen enden und vor der Partnerschaftsfeier musste sie noch mit ihm darüber reden. Soviel war sicher!


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RE: Neue Weltordnung

#9 von petias , 30.11.2020 10:17

NWO 9: Dirk - im Schweiße seines Angesichtes

Am nächsten Morgen wurde Dirk von einem markdurchdringenden Schrei geweckt. Erschrocken sprang er von seinem Matratzenlager auf und stieß schmerzhaft mit dem Kopf gegen einen Balken der Hütte, in deren Dachgeschoß er geschlafen hatte. Er rieb sich die schmerzende Stelle, während er in einer Mischung aus Furcht und Neugier durch die Dachluke in den Hof hinunterblickte. Aber statt des erwarteten schrecklichen Endgegners des 1. Levels eines Abenteuerspiels stand da nur ein - Esel. Dirk kannte das Tier aus Märchenmultimedias. "Tischlein deck dich" zum Beispiel oder "Die Bremer Stadtmusikanten" fielen ihm ein.
Eben brachte eine Gestalt in einem Umhang wie aus "Freitag den 13." dem Esel einen Arm voll Heu. Er warf es vor das Tier auf den Boden, das sofort anfing zu fressen.
Die Gestalt verschwand in Richtung Hütte aus Dirks Blickfeld. Vermutlich würde sie gleich hier sein.
Dirk zog sich hastig an. Noch bevor er damit fertig war, konnte er hören, wie die Eingangstüre geöffnet wurde.
"Guten Morgen, Dirk!", rief es von unten.
"Komm raus, wenn Du fertig bist!".
Dirk? Woher kannte die Kapuze seinen Namen? Das wurde immer sonderbarer. Das System hatte ihn also angemeldet?
Dirk schlüpfte noch in seine Schuhe und schulterte den Rucksack. Langsam ging er die steile Treppe nach unten in den Hauptraum der Hütte. Die Eingangstür stand offen. Nicht weit davon, zwei Meter neben dem Esel schaute der Kapuzenmann dem Tier beim Fressen zu.

Er war gekleidet wie eine Gestalt aus einem Märchen. Bequeme, feste Wanderschuhe, unter der dunklen verwaschenen Lodenkotze von unbestimmbarer Farbe waren Gamaschen zu sehen, die verhinderten, dass die Hosenbeine und die Oberseite der Schuhe nass wurden, beim Laufen durch Gras und Unterholz. Auf dem Kopf ein Schlapphut aus Filz, darüber die Kapuze der Kotze gezogen. Auf dem Rücken trug er einen Stoffrucksack von ebenso undefinierbarer Farbe wie die Kotze und der Schlapphut. An den Rucksack war eine Decke geschnürt.
Der Mann stützte sich auf seinen Wanderstab, der genau so lang war wie er selbst.

"Ihnen auch eine guten Morgen! Wieso nennen sie mich Dirk?".
"Heißt du nicht so?".
"Doch, aber woher wissen sie das?".
"Geraten!", die Märchengestalt lachte.
"Wohl tatsächlich vom System vorgewarnt", dachte Dirk. "Und wie heißen sie?".
"Du kannst mich 'Pilger' nennen!".
Dirk zuckte die Achseln. Ein Name war das nicht. Aber er wollte nicht unhöflich sein.
"Und wie geht es jetzt weiter?", fragte er, ohne sein Achselzucken in Worte zu fassen.
Der Pilger zeigte auf den Esel. "Wenn du magst, kannst du uns ein stückweit begleiten. Wir bringen dich zu einer Siedlung, in der du erst einmal bleiben und hier fußfassen kannst. Der Winter steht bevor. Was zu Essen, ein Dach überm Kopf und ein wärmendes Feuer dürften einem Verbannten aus dem Computerland willkommen sein.
Aber es steht dir durchaus frei weiter zu ziehen".

Dirk überlegte nicht lange: "Klingt vernünftig und sehr freundlich. Ich komme gerne mit. Ihr scheint gut organisiert hier im Reservat. Ich hatte, nachdem was man so bei uns hört, eher Feindseligkeit und Chaos erwartet".

Der Esel hatte sein Heu gefressen und der Pilger führte ihn zum Wassertrog. Er selbst füllte sich eine Art flexiblen Ballon, der aber nicht aus einem Kunststoff zu sein schien. Verschossen wurde das Gefäß mit einem hölzernen Stöpsel.
Dirk füllte seine Thermosflasche mit Wasser und verstaute sie im Rucksack, bevor er den auf den Rücken schwang und die Gurte festzurrte. Er beeilte sich dem Pilger hinterher zu kommen, der sich, den Esel am Halfter führend, schon auf den Weg gemacht hatte.

"Soviel ich weiß, heißt es bei euch 'in den Reservaten'", nahm der Pilger unvermittelt das Gespräch von vorher wieder auf, nachdem Dirk ihn eingeholt hatte.
"Das trifft die Sache durchaus. Reservate. Wir hier in den „Outbacks“ sind nicht ein Land wie deines, mit einer Hauptstadt und einer Zentralregierung und gleiche Bedingungen und Gesetze allüberall. Hier gibt es ganz verschiedenen Gruppen und Organisationsformen, abgelöst von freiem wildem Land. Bei der Wende wurden die Städte, stadtnahe Landschaften und fruchtbare Felder und Wiesen für die Nahrungsversorgung vom System besetzt. Eine Mauer drum herumgezogen. Der Rest, fast zwei Drittel der Erde, blieb draußen und sich selbst überlassen. Damit die "Reservate" keine Gefahr für den Rest der Welt darstellten, wurde das Land ins Mittelalter zurückgeschickt. Durch immer wieder kehrende EMP- Impulse und was weiß ich noch alles, funktioniert keine Elektronik. Elektrische Felder werden aufgespürt und neutralisiert. Alles was auf Elektronik basierte und elektrisch arbeitete funktioniert nicht mehr. Ein totaler Zusammenbruch der damaligen Gesellschaft. Aus den Trümmern der nicht städtischen Vorwendenzivilisation ohne Internet, Telefon, Funk, Fernsehen, Telegraphie entstand ein Flickenteppich einer postindustriellen Gesellschaft weitgehend aus den Resten vergangener Zeiten. Du hast schlichtweg Glück gehabt, dass es dich in ein vergleichsweise gut entwickeltes Reservat hier in Südthüringen verschlagen hat."

Als Dirk vor Erschöpfung kaum mehr laufen konnte, ließ ihn der Pilger auf dem Esel reiten. Ihm selbst schien der Marsch nichts auszumachen.
Der sonderbare alterslose Mann machte auf Dirk nicht den Eindruck als wäre er vor 24 Jahren noch Programmierer oder Blogger gewesen. Aus ihm schien eine Jahrhunderte alte Kultur zu leuchten.
Als Dirk den Pilger darauf ansprach, lächelte der und schenkte ihm ein Büchlein mit dem Titel "Die Tour" von Ägidius Possensack.

Nicht lange vor Einbruch der Dunkelheit kamen sie in der Siedlung an. Durch ein Tor betraten sie ein altes Fabrikgelände, auf dessen Überresten die Dorfgemeinschaft aufgebaut worden war.
Dirk bekam zu Essen, eine Art Gemüseeintopf und ein Stück Brot. Sehr schmackhaft, das hatte er nicht erwartet. Aber bei seinem Hunger hätte ihm vermutlich alles geschmeckt.

Nach dem Essen zeigte ihm eine alte Frau mit Kopftuch sein Lager.
"Schlaf gut!", sagte sie. "Gestern war Vollmond. Morgen geht es in den Wald, Holz schlagen. Bei uns muss man sein Brot im Schweiße seines Angesichts verdienen. Wir haben keine Computer, die uns die Arbeit abnehmen".
Mit diesen Worten überließ sie Dirk seinen Gedanken.

"Im Schweiße meines Angesichts", äffte Dirk die Alte nach. "Na toll!"!
Er war eingeschlafen, noch ehe sein Kopf das Kissen berührte.


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RE: Neue Weltordnung

#10 von petias , 03.12.2020 20:33

NWO 10: Elias - Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?

Elias hatte sich vor wenigen Minuten aus der Sammelschaltung des Komitees zurückgezogen. Auch MUNDUNIA hielt er aus seinem Hirn heraus, soweit das überhaupt möglich war. Er verließ den Kommunikationsraum des Komitees und schwebte in der Paternoster- ähnlichen offenen Kabine das eine Stockwerk höher zur Kuppel des Pantheons. Langsam ging er mit seinem leicht schleppenden Schritt an den Rand der Kuppel und begann sie zu umrunden. Er liebte den Blick über die Stadt, die Lichter, die Fenster, die Dächer und Kuppeln, die Antennen und Fühler. Eine Stadt, in der Menschen leben unterstützt durch die Technik, die sie geschaffen haben.

Trotz der schönen Aussicht und der Freude, was schon alles erreicht worden war in den letzten Jahrzehnten, fühlte er ein tiefsitzendes Unbehagen.
Die Menschen konnten in dieser komplexen globalisierten Welt nicht mehr ohne ihre Technik auskommen. Das war der Grund für die Wende. Aber die Technik kokettierte mit dem Gedanken, ohne die Menschen auskommen zu wollen. So war das nicht geplant!

In der Vorbereitungszeit der Wende mussten Allianzen geschlossen werden, die einem durchaus Kopfschmerzen bereiten konnten. Es gab nur noch wenige wirklich Reiche und Mächtige, und das Komitee hat ihnen allen ein Angebot gemacht. Es gab zwei Politiker in dieser Gruppe, aber der Grund ihrer Einladung ins Komitee hatte damit nichts zu tun. Politiker waren sie eher aus Eitelkeit. Sie hätten auch Schauspieler sein können. Die Macht der Aspiranten speiste sich aus anderen Quellen:

Kommunikation, Handel, Unterhaltung, Geldverkehr. Auch ein paar Experten der Biotechnologie und der "Künstlichen Intelligenz" wurden ins Komitee berufen. Wer ablehnte, verlor seinen Einfluss.
Die meisten von ihnen waren alt. Sie hielten sich mit den Möglichkeiten der Medizin, der Gentechnik, der Biotechnologie und der Kybernetik am Leben. Stammzellentransformation besonders von Kindern halfen die geschädigten Körper zu reparieren oder zumindest am Leben zu erhalten.

Einer von Elias Mitinitiatoren war sein Freund Tobias Rosenkreuzer. Er war unter anderem der Besitzer eines gigantischen Rechenzentrums in Atlanta Georgia an dem Elias Direktor gewesen war. Sie beschlossen den Versuch zu wagen, das Gehirn von Tobias komplett auf die Speichermedien des Computersystems zu laden. Es erschien als eine vielversprechende Möglichkeit, sein Wissen und seine Persönlichkeit zu erhalten, über das in Kürze bevorstehende Versagen seines biologischen Körpers hinaus. Rosenkreuzer hatte nichts zu verlieren, aber wenn es gut ging, alles zu gewinnen.

Das Experiment gelang. In diesem Moment existierten bereits 78 der 97 Mitglieder des Komitees in digitaler Form in den Tiefen von MUNDUNIA, wenn auch jederzeit nach dem Willen des jeweiligen Bewusstseins ohne Zugriff durch den Supercomputer. Sie verfügten über eigene Wohneinheiten und Einrichtungen, ausgestattet mit Sensoren und Aktivatoren bis hin zu Robotern, durch die sie die "Realität" fühlen, schmecken und erleben konnten.

Die Option der relativen Unsterblichkeit war Teil der Vereinbarung über den Eintritt in das Komitee. Die verbleibenden biologischen Organismen wurden mit Schnittstellen zu MUNDUNIA ausgestattet, so wie Elias selbst.

Bei Komitee- Sitzungen wurden alle Mitglieder mit MUNDUNIA zusammengeschaltet und bildeten zwar immer noch ein eigenes "ICH", aber waren geleichzeitig Teil einer größeren Einheit, dem Komitee, einem erweiterten Bewusstsein unterstützt durch eine gigantische geballte Rechenpower und alle dem System zur Verfügung stehenden Informationen.

Ein sehr sonderbarer Zustand. Die Grenzen des Individuums und der Gruppe waren fließend. Elias genoss die Verbindung, war aber auch immer wieder froh, wenn er sich daraus zurückziehen konnte.
Das Komitee beschloss nicht nur konkrete Gesetze, sondern philosophierte über die Lage der Welt. In letzter Zeit ging die kollektive Ansicht mehr und mehr in die Richtung, dass der nächste Schritt der Evolution über den Homo Sapiens hinaus ging. Der nächste entscheidende evolutionäre Quantensprung war ein Wesen, das losgelöst von seiner biologischen Basis zu einem digitalen Überwesen (aus menschlicher Sicht) mutierte.

Die alte Menschheit, so schien die Entwicklung sich abzuzeichnen, würde eine Stellung einnehmen, wie sie zu ihrer Blütezeit beispielsweise die Schimpansen innehatten.

Praktische Auswirkung dieser Philosophie: immer weniger Menschen wurde es gestattet, sich zu reproduzieren. Der nächste Schritt des Bevölkerungsmanagement sah einen Bestand des Homo Sapiens von ca. 500 Millionen Exemplaren vor. Die Reservate eingeschlossen.


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RE: Neue Weltordnung

#11 von petias , 14.12.2020 21:06

NWO 11: George - Das Privileg der Arbeit

George war ein ARBEITER. Er war sich nicht so sicher, wer mehr stolz darauf war, er selbst oder seine Mutter. Mutter Sina war Chinesin. Sie stammte aus Shanghai, der Stadt über dem Meer! Dass sie jetzt in Berlin lebte hatte denselben Grund, warum Georg - außer etwas um die Augen herum - nicht wie ein Chinese aussah. Sein Vater war ein Mitteleuropäer gewesen. Möglicherweise war er es noch, aber Georg wusste es nicht. Er hatte ihn seit fast 20 Jahren nicht mehr gesehen.

Zur Zeit der Wende verbrachten sie die meisten Wochenenden und den Großteil der Ferien in Süd- Thüringen auf dem Land. Unter der Woche lebten sie in Berlin. George ging da zur Schule und die Eltern arbeiteten als Berater teils in verschiedenen Bundesministerien, als es die BRD noch gab teils in diversen Institutionen der EU in Brüssel.

Nur Monate nach der Wende war der Reiseverkehr zwischen Berlin, das Teil des Systems wurde und ihrem Landdomizil, das in einem der neu geschaffenen Reservate lag, nicht mehr möglich. Der Kontakt zu den Leuten auf und um den Lichthügel war abgebrochen. Eine Reise war nur bis zu einer neu geschaffenen Grenze möglich.
Dahinter wäre es nur noch zu Fuß weiter gegangen ohne die Möglichkeit einer Rückkehr.

Als George 13 Jahre alt war, verschwand sein Vater in die Reservate. Er hatte bis heute nicht erfahren, ob er vom System zur Ausreise gezwungen worden war oder ob er seinem eigenen Entschluss folgte. So oder so, Mutter und er hätten folgen können, taten es aber nicht. Mutter sprach nicht darüber. Vater Gerald, Mirko, Christoph, Evi und all die anderen waren aus seinem Leben verschwunden, als wären sie gestorben. Vielleicht waren sie das auch.

Mit 15 begann er, nach bestandenen Aufnahmetests und durch den Einfluss von Mutter Sina eine Ausbildung an einer Akademie des Systems. Mit 22 wurde er - mit der Anstellung im Heimatministerium - offizielles Mitglied der ARBEITER. Seither hatte er mit der Überwachung von BÜRGERN zu tun, und mit Verfahren von Auswilderungen sollte das nach dem Recht des Systems geboten sein.

Erst kürzlich war es George gelungen, einen "Agenten", Dirk Slawinski, auszuwildern, und zwar durch den Port, der dem Lichthügel am nächsten liegt. Vielleicht konnte er so etwas über seinen Vater Gerald und die anderen erfahren.

Das Angebot innerhalb der Hierarchie der ARBEITER aufzusteigen, hatte er bislang noch nicht angenommen. Erstens, weil er von seiner gegenwärtigen Tätigkeit sich Auskünfte über die Reservate erhoffte und zweitens, weil er noch nicht wirklich bereit war, zum Cyborg zu werden. Für sehr lange würde er die Entscheidung nicht mehr aufschieben können.

Noch einen weiteren Grund gab es für sein Zögern: Colette! Sie waren beide Mitglieder der "Gotteskinder", einer Religionsgemeinschaft und über die Riten der Gemeinschaft als Lebenspartner füreinander bestimmt.
Ursprünglich war er dieser Sekte im Rahmen seiner Überwachungstätigkeit beigetreten, aber die Bekanntschaft mit Colette hatte alles verändert. In zwei Tagen war es so weit. Die Partnerschaftsfeier sollte sie vor Gott für das ganze Leben verbinden.
Keine Frage, dass er Colette vorher die Message seines Lebens würde dechiffrieren müssen, ihr "reinen Wein einschenken", wie es so schön heißt. Würde sie danach noch was von ihm wissen wollen? Könnte sie ihn immer noch lieben?

George wurde es übel, wenn er nur daran dachte!


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RE: Neue Weltordnung

#12 von petias , 16.12.2020 12:15

NWO 12: Dirk - zwischen den Fronten

Die Arbeit im Wald war hart, aber auch befriedigend. Anfänglich erschien es Dirk als ein Akt der Barbarei, Bäume zu fällen. War das Pflanzen von Bäumen und das Aufforsten von Wäldern doch oberstes Gebot, seit er denken konnte. In seiner Jugend wurden sogar Truppen eingesetzt, um das Abholzen der Regenwälder Amazonas endlich zu stoppen. Freiwillige aus der ganzen Welt, unterstützt von Roboterdrohnen die Baumsetzlinge abwarfen, halfen beim Wiederanpflanzen von Wäldern im Amazonas- Gebiet und in vielen weiteren Teilen der Welt. Das Fällen von Bäumen, standen welche z.B. der Stadtentwicklung im Weg, bedurfte der Genehmigung durch die lokale Verwaltungsbehörde.

Hier in den Reservaten hatte der Wald große Bedeutung. Holz war das wichtigste Baumaterial, der Grundstoff für Möbel und sonstige Einrichtungsgegenstände, für Werkzeuge und der wichtigste Brennstoff zum Kochen und Heizen. Ohne Holz wäre das, was an Kultur in den Reservaten noch übrig war nicht möglich gewesen.

Allerdings, oder gerade deshalb, war man sehr darauf bedacht, mit den Wäldern schonend umzugehen und auf deren ständige Verjüngung zu achten. Zumindest in dieser Gegend, in die es Dirk verschlagen hatte.

Zur Holzarbeit brauchte man Werkzeuge. Sägen, Äxte, Beile, Keile, Sappies und noch so manches. Alles war zumindest zum Teil aus Eisen oder Stahl. Deshalb gab es in Ziepoli, so nannte sich die Siedlung, weil sie sich auf dem Gelände einer alten Porzellanfabrik dieses Namens niedergelassen hatte, eine Schmiede, wo solche Geräte gewartet, repariert und aus Schrott, der noch aus der Vorwendezeit stammte, hergestellt wurden.

Um einen Baum zu fällen, musste man erst überlegen, in welche Richtung er fallen sollte. Auf dieser Seite des Baumes begannen zwei Holzarbeiter mit einer Bandsäge in den Baum zu schneiden. Dabei zogen sie abwechselnd an den hölzernen Griffen der Säge. Fing die Säge an zu klemmen, zog man sie aus dem Stamm und schlug mit der Axt eine keilförmige Kerbe in den Stamm, den Schnitt als untere Grenze. Der Keil bot der Säge Raum für die Fortsetzung des Schnittes.
War der Keil so groß, wie die Hälfte der Dicke des Stammes, setzte man von der anderen Seite etwas oberhalb der vorherigen Schnittstelle einen zweiten Schnitt, bis der Baum sich in die Öffnung des Keiles neigte und schließlich langsam umfiel. Je nach Stand der Äste und der Masseverteilung des Stammes, konnte sich der fallende Baum drehen, sogar die Richtung wechseln, andere Äste oder gar kleinere Bäume mitreißen, bis er schließlich zu Boden donnerte, die Äste noch eine Weile nachschwingend.

Für die Holzfäller war das nicht ungefährlich. So ein umstürzender Baum hat sich nicht selten mit Verletzungen oder gar Tod bei seinen Mördern gerächt.

Aber mit dem Fällen des Baumes war erst der Anfang gemacht. Die Äste mussten abgeschlagen werden, der Stamm wurde entrindet und in Stücke geschnitten, die man transportieren konnte. Dabei durfte man nicht den Zweck aus den Augen verlieren, dem der Baumstamm diene sollte. Würde er ein Balken werden, oder sollten Bretter aus dem Stamm geschnitten werden, so war auf die benötigte Länge der künftigen Baumaterialeien zu achten.

Dirk hatte die ersten Tage Blasen an den Händen und ihm schmerzte jeder Muskel im Körper. Das Essen am warmen Ofen in der Speisehalle schmeckte himmlisch und der Schlaf war tief, traumlos und viel zu kurz.

Langsam wurde der Umgang freundlicher mit den Siedlern. Sie schienen zu honorieren, dass er sich bei der Arbeit Mühe gab. Am Sonntag, der war arbeitsfrei, kam Gerald auf ihn zu.
Gerald war ein Mann mittleren Alters, der von den Siedlern mit einem gewissen Respekt betrachtet wurde. Es gab zwar keinen direkten Führer in der Siedlung, aber Gerald war sicher einer der am meisten angesehenen Mitglieder.
Gerald lebte meist außerhalb der Siedlung auf einem Gehöft in der Nähe, das der "Lichthügel" genannt wurde. Dahinauf stiegen sie an diesem trüben Vorwinternachmittag und Gerald lud Dirk zu einem Tee in die Bibliothek des Hauses ein.
Während Gerald Tee machte und getrocknete Gemüsekräcker auf den Tisch stellte, blätterte Dirk durch das eine oder andere der Bücher in den Regalen.
Interessanterweise gab es da auch das Buch von Ägidius Possensack, welches ihm der Pilger geschenkt hatte. Und noch ein Buch stand daneben, vom selben Autor. "Die Wende" war der Titel.
Mittlerweile kam noch eine Frau ins Zimmer, die sich als "Evi" vorstellte. Sie war nach Dirks Vermutung die Freundin von Gerald. Evi begrüßte Dirk freundlich und brachte sehr gut aussehende Kekse mit, denen die Bienen des Lichthügels, wie Evi lächelnd verkündete, ihre Süße gespendet hatten.

Als sie gemütlich um den warmen Ofen saßen und sich den Tee und das Gebäck schmecken ließen, lenkte Evi das Gespräch auf den Umstand von Dirks Erscheinen in den Reservaten.
"Der Pilger hat uns ein Bisserl von dir erzählt. Er sagt, du kämst aus Berlin. Stimmt das?".
Dirk wunderte sich schon wieder. Woher wusste der Pilger das?
"Stimmt, aber woher weiß der Pilger das?"
"Der Pilger weiß so manches, der ist aus einer anderen Welt! So genau weiß niemand, was er macht, wo er sich aufhält, mit wem er in Verbindung steht. Aber lies das Buch, das er Dir gegeben hat. Wenn Du es gelesen hast, gebe ich Dir noch eins vom selben Autor, dann erfährst Du etwas mehr darüber".
Gerald holte die beiden Bücher von Possensack aus dem Regal, die Dirk vorhin schon in den Händen gehabt hatte, und legte sie auf den Tisch.

"Wer hat dich zu uns geschickt und was hat er dir angeschafft?“, fragte Evi, mit einem gewinnendem Lächeln.

Dirk wusste nicht so recht, wohin er blicken sollte und starrte durch die Sichtscheibe in die Flammen des Ofens. Er war Agent des Systems. Die Erfüllung seiner Aufgaben würde vermutlich darüber entscheiden, ob er wieder zurück durfte ins System und in den Stand der ARBEITER mit Aussicht auf Privilegien bis zur Unsterblichkeit.
Andererseits waren die Leute hier ganz anders, als er es erwartet hatte. Wenn er tatsächlich hierbleiben musste, wäre es wohl besser, er würde sich keine Feinde machen. Ganz offensichtlich wussten diese WILDEN, wie das System sie nannte, mehr als dieses zu ahnen schien.
Dirk fühlte sich in einer Zwickmühle.


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RE: Neue Weltordnung

#13 von petias , 05.01.2021 22:22

NWO 13: Colette und George - Geständnisse

Colette hatte darauf verzichtet, für den knappen Kilometer von der U-Bahn zu Georges Wohnung in Zehlendorf einen Transporto zu rufen. Sie ging zu Fuß! Es war auf den Tag genau 3 Wochen her, seit sie George zuletzt getroffen hatte. Aber heute war die Trennung vorbei. Morgen, wenn beide noch wollten, sollte die Partnerschaftsfeier steigen.

Colette war aufgewühlt und unruhig. Drei Wochen konnten eine lange Zeit sein. Hatte sich George verändert? Sie hatte sich verändert, zumindest ein bisschen!

George wohnte in einer Villa zusammen mit seiner Mutter, hatte aber eine eigene abgeschlossene Wohnung. Es hatte Vorteile ein ARBEITER zu sein.
Obwohl Colette freien Zugang zu Georges Wohnung hatte, betätigte sie den Knopf des Eingangskommunikators.
"Du wirst schon sehnsüchtig erwartet!", meldete sich MADELENE, Georges persönliche Assistentin ohne erkennbare Verzögerung und das Gartentor öffnete sich. Nur Augenblicke danach glitt die Eingangsschleuse zurück und George stürmte die drei Stufen hinunter auf Colette zu und nahm sie in die Arme.
"Endlich!", seufzte Colette mit einem leichten Verdrehen der Augen und erwiderte die Umarmung. Ihre Lippen fanden sich zu einem langen leidenschaftlichen Kuss.
Etwas außer Atem nahm George Colette bei der Hand.
"Gehen wir hinein!", murmelte er heiser mit einer Kopfbewegung und zog Colette zur Tür, die noch immer offenstand.
Colette entledigte sich ihres Mantels und setzte sich aufs Sofa. Sie streifte ihre Schuhe ab und zog die Beine hoch zum Schneidersitz.
George setzte sich ihr gegenüber, ebenfalls im Schneidersitz und strahlte sie an.
"Geht es dir gut?“, fragte er wobei er den Kopf leicht schief hielt und sie mit seien blauen Augen anblitzte. "Du siehst jedenfalls phantastisch aus!".
"Schmeichler!". Ihr Stimme klang gespielt vorwurfsvoll.
Es entstand eine Pause.
"Ich muss dir was sagen...", begannen beide gleichzeitig, brachen wieder ab und lachten dann.
"Du zuerst!", George lehnte sich zurück an das Polster und war ganz Zuhörer.

Colette berichtete von ihrer außerkörperlichen Erfahrung, und wie sehr sie jetzt sicher wäre, dass es viel mehr gäbe, als wir wissen könnten und dass der Tode nur ein Übergang sei, in eine andere Welt.
"Ich bin mir nicht sicher, ob das viel mit dem Gott der "Gotteskinder" zu tun hat, denen wir beide angehören. Das sind Bilder, Geschichten und Bräuche, die ganz nett sind. Aber was ich da erlebt habe, ist viel wirklicher, direkter, anders. Jetzt hältst du mich sicher für übergeschnappt! Ich habe volles Verständnis, wenn du dir das mit dem Partnerschaftsversprechen noch mal überlegen willst.

George lachte.
"Uh, ich dachte schon es könnte etwas Schlimmes passiert sein. Jetzt bin ich aber erleichtert!".
"Was zum Beispiel?“, wollte Colette wissen.
"Das Schlimmste wäre, wenn du jemanden getroffen hättest, oder tief nachgedacht - und jetzt keine Lust auf eine Partnerschaft mit mir mehr verspürst".

"Bei dem Begrüßungskuss?". Unmöglich!". Colette zog gespielt missbilligend den Mundwinkel hoch schüttelte den Kopf.
George hob Arme und Schultern, was seine ergebene Hilflosigkeit zum Ausdruck bringen sollte: "Weiß man's?".
Dann wieder ernster: "Dein Erlebnis ist gar nicht so ungewöhnlich. Ich habe ähnliches auch schon erlebt. Als Kind waren wir mit den Eltern oft auf dem Land. Da gab es Feste mit Lagerfeuer und Treffen. Da sind mitunter magische Dinge passiert. Auch jetzt verlasse ich manchmal noch den Körper, um zu reisen. Ich habe dich sogar schon in deiner Wohnung besucht und dir beim Schlafen zugesehen".
"Spanner, erzähl mir mehr! Und auch von den Erlebnissen auf dem Land...".
George lachte: "Ich freu mich drauf, mit dir darüber zu reden. Aber erst möchte ich dir noch was von mir erzählen. Vielleicht willst du es dann gar nicht mehr hören!".
"Du machst mir Angst!". Colette sah ihn mit erschrecktem Gesicht erwartungsvoll an.

"Es geht um meine Arbeit. Ich habe dir nie erzählt, was genau ich mache. Stimmt, das ist weitgehend geheim, aber ich will, dass du weißt, woran du mit mir bist. Und ich will keine Geheimnisse haben, vor meiner Lebenspartnerin.
Ich arbeite nicht in der Lokalverwaltung, sondern im Heimatschutzministerium. Mein Job ist die Überwachung von BÜRGERN. Priorität meiner Arbeit ist das Aufspüren systemschädlicher Entwicklungen und ihre Bekämpfung.
Das war auch der Hauptgrund für meinen Anschluss an die Gotteskinder. Glaubensgemeinschaften schätzt das System grundsätzlich stabilisierend ein, können aber auch Sprengstoff entwickeln. Du weißt: 'Unser Versorger ist nicht das System mit seinem Frontmann Elias, sondern Gott! Das System handelt in seinem Auftrag!', solche Aussagen bergen potentiellen Zündstoff.
Aber das mit dir ist absolut echt. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dein Partner zu sein.
Und wenn wir morgen den Schritt zum feierlichen Partnerschaftsversprechen machen, so musst du noch eines wissen: wie sich das mit meinem Job entwickelt, entscheiden wir gemeinsam. Wenn ich Aufgaben erhalten soll, oder bereits erhalten habe, die du nicht mittragen kannst, so werde ich das nicht machen. Ein Ausscheiden aus den ARBEITERN schreckt mich nicht. Wir entscheiden das zusammen."

Sie saßen eine gefühlte Ewigkeit schweigend da und sahen sich an.

"Was sagst du?", brach George schließlich das Schweigen, mit einem warmen, sehnsuchtsvollem Blick.

Colette sagte gar nichts. Sie drehte sich auf dem Sofa um und kuschelte sich mit dem Rücken an George. Der nahm sie in die Arme. Sie küssten sich sehr sanft und zärtlich. Georges Lippen glitten über ihre Wangen hoch und berührten warm ihre Augen. Zarte Küsse auf die geschlossenen Augenlieder zauberten psychodelische Bilder in Colettes Empfinden.
George strich ihre halblangen braunen Haare von ihrem rechten Ohr zurück und malte mit der Zungenspitze die Konturen ihrer Ohrmuschel nach. Colette war völlig paralysiert und genoss erstaunt die tiefen Empfindungen. Nur als George mit der Zungenspitze wie ein Blitz aus heiterem Himmel tief in ihren Gehörgang drang, zog sie den Kopf erschrocken zurück, ohne aber ihre Augen zu öffnen.
George lies von ihrem Ohr ab und widmete sich mit tastenden Lippen küssend und saugend ihrem Hals. Colette legte den Kopf zur Seite, um diesen in ganzer Fülle freizugeben. Georges Mund arbeitet sich zur Schulter vor, soweit der Kragen der Bluse das zuließ. Colette öffnete zwei weitere Knöpfe, und zog den so erweiterten Ausschnitt über das Oberarmgelenk. Georges Mund öffnete sich und seine Zähne schabten und knabberten am Schultermuskel entlang. Colette, schwer atmend, wollte die Bluse ganz ausziehen, um Georges erforschenden Mund mehr freies Terrain anzubieten. Aber George hinderte sie daran. Kaum vernehmbar hauchte er ihr ins Ohr: "jetzt haben wir solange gewartet, da schaffen wir es auch noch bis morgen!".
Colette stimmte etwas enttäuscht zu, aber liebte ihn dafür umso mehr!


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RE: Neue Weltordnung

#14 von petias , 17.01.2021 12:31

NWO 14: Dirk - Jule, ein keltisches Ritual zur Wintersonnenwende Teil 1

Schon am Morgen des 21. Dezembers umgab eine erwartungsvolle, geschäftige Aura die alte Porzellanfabrik, die die Heimat der Siedlung "In der Lichte" geworden war. Der Name leitete sich von dem Flüsschen "Lichte" ab, das das Lichtetal durchplätscherte.
Das Zentrum der Aktivitäten war die Große Halle. Hier standen früher die Brennöfen. Die Halle erstreckte sich über alle drei Stockwerke des Gebäudes und wurde von einem Glasdach nach oben abgeschlossen, lang und spitz mit ein paar Löchern in den Scheiben, aber immer noch sehr eindrucksvoll.

Eine große Fichte lag auf dem Boden, noch komplett mit allen Zweigen und Ästen, nur die Wurzeln fehlten. Ein großes stabiles Podest mit einem Loch in der Mitte und mehrere lange Stangen deuteten darauf hin, dass der Baum in der Halle aufgerichtet und stehend befestigt werden sollte.

"Ein reichlich überdimensionierter Weihnachtsbaum", dacht Dirk. Das Treiben hatte ihn früh aus dem Bett gelockt, dabei war er doch gestern erst spät von der Reise ins Saaletal zurückgekommen, die er zusammen mit zwei anderen Licht'nern und einem Ochsengespann unternommen hatte, um zwei Fässer Wein zu holen. Hier oben gedieh kein Wein. Einige 100 Meter tiefer im Saaletal, sah das anders aus.
Als Bezahlung hatten sie zwei Kisten Porzellangeschirr mitgebracht. Porzellan war selten geworden. Meist begnügte man sich mit Tongeschirr.
Früher war das Lichtetal bekannt als Porzelliener- Gegend. Es gab eine ganze Reihe von Porzellanmanufakturen bis über die Zeit der DDR hinaus. Aber mit dem Anschluss an die BRD wurden die meisten davon "abgewickelt". Ein kleines Werk in Lippelsdorf hatte sich als Museum erhalten, in dem man die alten Künste des weißen Goldes noch pflegte und einem touristischem Publikum näherzubringen versuchte.
Diesem Umstand verdankte es die Lichtesiedlung, dass sie noch heute Porzellan in bescheidenem Umfang als Handelsware und auch zum Eigengebrauch herstellen konnte. Man hatte die Geräte aus dem Museum ausgebaut und in einem Nebenflügel der alten Porzellanfabrik "Ziepoli" wieder zu neuem Leben erwecken können, dank des "Knowhows" einiger ehemaliger Angestellten.

"Ja is denn heit scho Weihnachten?“, fragte Dirk scherzhaft. Das war in seiner Welt ein geflügeltes Wort gewesen. Aber niemand schien mehr zu wissen, wo das herkam.
"Nein, wir feiern kein Weihnachten. Wir feiern das Original: Jule, das keltische Fest der Wintersonnenwende!" - Evi war vom Lichthügel heruntergekommen, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Dirk begrüßte sie.

"Wird da ein Feuer angezündet?", Dirk zeigte auf den beachtlichen Holzhaufen, der noch weiter anwuchs, durch die von Kindern und Jugendlichen emsig herbeigeschleppten Äste und Scheite.
"Ja, wir begrüßen das Licht der wieder länger werdenden Tage! Und begehen das Ritual einer schamanischen Reise in die 'Anderswelt'. Jule ist ein Tag der Magie und der Prophezeiungen für das neue Jahr!"

"Ein mystisches ‚Hokuspokus‘ anstelle von Weihnachten? Das erscheint mir kein Fortschritt zu sein".

"Kein mystischer Hokuspokus! Die Anderswelt ist genauso real, wie unsere Alltagswelt. Nur eben anders!"

"Ich glaube nur, was ich sehe!", Dirk wedelte abwehrend mit den Unterarmen und Händen.
"Jeder kann das sehen - oder besser erleben. Ob du siehst, fühlst, schmeckst, riechst oder was immer oder einiges davon oder alles, das hängt von dir ab und der Situation. Man muss nur aufgeschlossen sein und die Möglichkeit des Erlebnisses nicht von vornherein ausschließen".

"Und wie sieht sie aus, diese Anderswelt? Du warst offensichtlich schon da".
Evi sah in leicht belustigt an:" Sie sieht für jeden etwas anders aus. Aber es gibt Gemeinsamkeiten. Den Weltenbaum, den Brunnen der Erinnerung, die Quelle der Nornen: die 'was ist' - Norne, die 'was war' - Norne und die 'was wird sein' - Norne, den Fluss „Hevegelmir“. Du kannst den Stein der Kraft finden und die faszinierendsten Fabeltiere. Dein Krafttier, die Höhle der Heiltiere und vieles mehr. Aber nicht alles gleich beim ersten Mal. Man muss auch das Reisen lernen und das spannende daran ist, dass man immer was Neues erleben kann. Probiere es aus. Du musst nichts glauben. Mache deine Erfahrungen selbst. Sei nur aufgeschlossen für das, was du erleben könntest. Das genügt schon. Die Anderswelt ist jedem zugänglich, der sie betreten will. Wie das geht, kannst du heute Abend beim Fest erleben".

Dirk was skeptisch. Gab es tatsächlich in der 'Alten Welt' so etwas ähnliches wie die virtuellen Spielwelten, in denen er sich früher so gerne getummelt hatte und noch früher geholfen hatte, sie zu entwerfen? Es gab so manche Parallele zwischen diesen Scheinwelten und das, was Evi ihm über die Anderswelt erzählt hatte. Vielleicht - Dirk lief ein Schauer die Wirbelsäule hinunter - waren die magischen Welten der Virtual - Reality - Fantasy Spiele Erinnerungen an die Erlebnisse in der Anderswelt aus früheren Zeiten der Menschheit?
Und konnte er hier bei den WILDEN diese Kunst wieder erlernen?

Dirk fieberte aufgeregt der Feier entgegen. Bis dahin wollte er sich nützlich machen und bei den Vorbereitungen helfen.
"Was kann ich tun?", fragte er Angelika.
Die schickte ihn in die Küche zum Gemüse schnippeln!


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zuletzt bearbeitet 12.04.2021 | Top

RE: Neue Weltordnung

#15 von petias , 20.01.2021 22:34

NWO 15: Dirk - Jule, ein keltisches Ritual zur Wintersonnenwende Teil 2

Als es begann dämmrig zu werden in der großen Halle, wurde das Lagerfeuer angezündet. Licht und Wärme der lodernden Flammen lockten schnell mehr und mehr der Dorfbewohner an und die zwei Reihen Sitzgelegenheiten, die sich in einigem Abstand um die Feuerstelle gruppierten, füllten sich schnell.
Der Rauch stieg gerade nach oben in die große Halle hinein. Dirks Befürchtung, sie würden bald alle hustend in dichtem Qualm sitzen, bewahrheiteten sich zum Glück nicht. Offenbar funktionierte die Entlüftung über das Dach.

Einige der Bewohner hatten sich kostümiert. Zumindest empfand Dirk das so. Sie trugen Felle, Federn oder Kuhhörner, einer hatte eine Haube mit einem Hirschgeweih daran montiert auf dem Kopf. Einige der Maskierten, aber auch andere ohne Verkleidung trugen Trommeln oder Rasseln. Fantasievoll gestaltete Holzrahmen mit Fellen bespannt, Kürbisse mit getrockneten Erbsen oder Getreidekörnern gefüllt.

Der Mann mit dem Hirschgeweih begann, den Platz um das Feuer herum offensichtlich symbolisch mit einem Besen aus gebundenem Kraut zu reinigen. Er wedelte damit über den Boden und kommentierte dazu laut und deutlich vernehmbar was er tat: "ich reinige diesen Ort mit einem Besen aus Beifuß. Ich bitte euch Geister und Wesen, uns diesen Platz für die Dauer des Rituals zu überlassen. Die gutgesonnenen und wohlmeinenden unter euch seien herzlich eingeladen, daran teilzunehmen.

Zwei Frauen streuten etwas im Kreis um alle Anwesenden mit einer Art hölzernen Kochlöffel aus einer Schüssel. Sie begannen von einem Punkt hinter den Sitzreihen aus und bewegten sich beide in entgegen gesetzten Richtungen, um auf der anderen Seite des Kreises wieder zusammen zu treffen und ihren gestreuten Kreis zu schließen. Dabei erklärten auch sie, was sie taten: "Ich begrenze den Ort des Rituals mit Mehl, Salz und Huflattich. Mögen die bösen Geister diesem Ort fernbleiben. Alle wohlmeinenden Wesen sind eingeladen, sich uns für diese Feier anzuschließen".

Sobald die beiden Frauen mit ihrer Abgrenzungszeremonie fertig waren, schritt der Mann mit dem Hirschgeweih unter ständigem Schütteln seiner Rassel der gestreuten Grenze entlang um den Ort, wie er allen kundtat, um den zeitlichen Begin der Zeremonie zu markieren.

Danach legt er die Rassel beiseite und ergriff eine Rahmentrommel. Er trat vor jedem der im markierten Kreis Anwesenden hin, widmete ihm einige Trommelschläge und erklärte z.B. feierlich: "Evi ist vom Lichthügel heruntergekommen, um an unserem Ritual für die Wintersonnenwende teilzunehmen. Mit einigen weiteren Trommelschlägen tat er dies der Welt kund, bevor er sich dem nächsten Anwesenden zuwandte.

Nachdem alle dem Ritual beiwohnenden Individuen vorgestellt wurden waren, wurde eine Feuerschale mit Kräutern in den Kreis gebracht. Eine Frau in ein Rinderfell gekleidet mit Kuhhörnern auf dem Kopf kniete sich vor der Schale nieder und entzündete mit einem brennenden Ast die Kräuter:
"Zum Dank an alle Wesen, die die Güte haben an unserem Fest teilzunehmen entzünden wir diesen Beifuß. Er wurde im Sommer für diese Zeremonie gesammelt und getrocknet.
Wir danken für alles Gute, das wir empfangen haben. Wir haben genug Feuerholz für diesen Winter gesammelt. Die Vorratsspeicher sind genügend gefüllt, so dass wir gute Aussichten haben, den Winter ohne Not zu überstehen.
Wir danken euch für diese Fest und bitten euch uns auch im nächsten Jahr wieder beizustehen. Zeig denen, die es wollen und gleich in die Anderswelt reisen werden was sie wissen sollten, was ihnen das neue Jahr bringt. Höret den Dank und die Bitten der Anwesenden, die jeder still für sich vorbringen wird".

Jetzt war es still in der Runde. Es gab keine Geräusche außer dem Knacken des Feuers. Viele hatten die Augen geschlossen. Dirk sah den Funken nach, die in Richtung der Hallendecke ihre Leuchtspuren zogen. Dann schloss auch er die Augen.

Er nahm also gerade an einem heidnischen Ritual teil. So ein Wenig „Hokus-Pokus“ scheint in der Natur des Menschen zu liegen. Ob man Wein in Blut und Backoblaten in Fleisch verwandelt oder die Geister anruft, so groß scheint der Unterschied nicht zu sein. Aber Feuer, Rauch und Trommelklänge bieten eine eindrucksvolle Kulisse. Derlei war durchaus nach Dirks Geschmack. Warum nicht einfach mitspielen.
Was würde er denn gerne erfahren wollen. Ob er jemals wieder zurück in die Zivilisation durfte? Ob er mit Gerald und Evi über seine Mission reden sollte? Erzählen wer ihn geschickt hatte und mit welchem Auftrag? Ob er die Antworten mit den Bewohnern hier absprechen sollte? Ein paar gute Ratschläge wären nicht schlecht!

Mittlerweile hatten mehrere Rahmentrommeln damit begonnen einen gleichmäßigen monotonen Rhythmus in die Stille zu hämmern. Dirk öffnete die Augen und sah, dass eine Gruppe von ca. 20 Leuten einen Kreis um das Feuer gebildet hatten und sich zu den Schlägen der Trommeln bewegten. Vor den Sitzreihen auf den Boden hatte sich die Gruppe der Trommler gesetzt und bedienten ihre Instrumente mit Hingabe.

Dirk bemerkte, dass er selbst auch mit den Füßen auf den Boden stampfte und sich mit den Fäusten im Takt auf die Schenkel klopfte. Evi und Gerald hatten neben ihm Platz genommen. Gerald zwinkerte ihm zu: "Das Tanzen und Trommeln dient dazu ins Hier und Jetzt zu kommen. Gleich beginnt die Reise. Magst Du es versuchen?"

Einige der Tanzenden hatten sich auf den Boden gelegt oder gesetzt. Die Sitzenden hatten sich aus dem Knieen heraus auf ihren Fersen abgesetzt. Einige der Liegenden lagen auf dem Bauch, andere auf dem Rücken. Die rechte Hand über dem Kopf, die linke im 30 Grad Winkel vom Körper abgespreizt, die Füße überkreuzt. Die Knieenden hatten die Hände auf die Knie gelegt und richteten den Blick nach oben.

"Ich würde dir die kniende Haltung empfehlen. Sie dient dem Reisen in die mittlere Welt. Sie eignet sich gut dazu Rat zu erhalten und zur Metamorphose. Falls Du einem Tier begegnest und dich traust, kannst du es bitten, dich in seine Gestalt verwandeln zu dürfen. Ein unglaubliches Erlebnis!"
Dirk sah Gerald zweifelnd ins Gesicht. Der schien das absolut ernst zu meinen.
"Und die liegenden Positionen?"
"Die Reisenden, die auf dem Rückenliegen, wollen in die obere Welt. Die anderen in die untere.

Gerald ging nach vorne und nahm eine kniende Position ein. Er legte ein Stück Pergament vor sich hin und winkte Dirk, sich ihm anzuschließen. Auf dem Pergament war schwarz, vermutlich mit Holzkohle, eine Art X gemalt: die Rune EH, wie Dirk später erfuhr. EH, Odins achtbeiniges Pferd, überwindet alle Grenzen. Der Weg nimmt seinem eigenen Verlauf. Das ist hilfreich, wenn wir noch gar nicht so genau wissen, wohin wir wollen. Das Pferd trägt uns, der Weg führt uns und wir entscheiden, ob wir angekommen sind oder nicht!

Dirk hatte sich Gerald gegenübergesetzt und blickte ebenfalls wie der eine Weile auf die Rune. Als Gerald schließlich die Augen schloss, machte Dirk es ihm nach.
Still versenkte er sich in die Trommel- und Rasselklänge. Nichts Besonderes schien zu geschehen. Was hatte er auch erwartet?


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